Ursache
Die Vermutung, dass es sich beim Rett-Syndrom um eine genetische bedingte Erkrankung handelt, konnte nach einer Forschungszeit von 16 Jahren endlich bestätigt werden. Im September 1999 gelang es, ein defektes Gen (genannt MeCP2) auf einem der beiden X‑Chromosome zu bestimmen.
Häufigkeit
Häufigkeitsziffer: 1:10000. In Deutschland gibt es jährlich ca. 40 Neuerkrankungen. Schätzungsweise 300–400 Fälle sind in Deutschland bekannt. Weltweit sind es derzeit ca. 4.000 Fälle. Die Krankheit kommt nur in erbgesunden Familien vor und betrifft ausschließlich Mädchen.
Diagnostik
1966 wurde die Krankheit erstmals vom Wiener Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Dr. Andreas Rett beschrieben. Bis zur Entdeckung des defekten Gens musste die Diagnosestellung noch über die sog. Ausschlussdiagnostik (d. h. alle anderen ähnlichen Krankheiten werden ausgeschlossen) erfolgen. Die Diagnose begründete sich auf der Symptomatik und den Entwicklungsstufen der erkrankten Mädchen. Eine gesicherte Diagnose war bisher nicht vor dem vierten Lebensjahr möglich.
Durch einen Bluttest kann das Rett-Syndrom jetzt, unabhängig vom Alter der Mädchen, diagnostiziert werden. Die Untersuchung wird an der Universitätsklinik Göttingen durchgeführt.
Universitätsklinik Göttingen
Ansprechpartner: Labor (Institut für Humangenetik):
Dr. med. (I) Franco Laccone
Tel. 0551–399019
E‑mail: flaccon@gwdg.de
Klinische Fragen (Universitäts-Kinderklinik):
Prof. Dr. med. Folker Hanefeld und Dr. med. Peter Huppke
Tel. 0551–398019
E‑mail: hanefeld@med.uni-goettingen.de
Hauptpunkte zur Diagnose:
- Anfangs eine normale Entwicklung des Kindes; es folgt zwischen dem 6. und 18. Lebensmonat ein Stillstand und dann eine deutliche Regression (Rückbildung). Die bis dahin erworbenen Fähigkeiten werden wieder verlernt.
- Normaler Kopfumfang bei Geburt; später die Verlangsamung des Schädelwachstums zwischen dem 5. Monat und dem 4. Lebensjahr.
- Die Bewegung der Hände geht in Handstereotypien (immer wiederkehrende Bewegung) über, sog. „washing movements“ – waschenden Hände.
- Die sprachliche Entwicklung tritt verzögert auf und bleibt in einem frühen Stadium stecken, fast immer fehlt das Sprachvermögen ganz.
- Hochgradige, geistige Retardierung (Entwicklungsverzögerung); die tatsächliche Intelligenz ist nur sehr schwer zu erfassen.
- Unsicherer breitbeiniger Gang, oftmals fehlt die Fähigkeit zu gehen völlig.
- Diagnose durch Bluttest möglich.
Hilfspunkte zur Diagnose:
- epileptische Anfälle (bei ca. 80 %)
- EEG-Auffälligkeiten
- schlechte Durchblutung der Extremitäten (Gliedmaßen)
- Zähneknirschen
- unregelmäßige Atmung
- Skoliose (Wirbelsäulenverkrümmung)
- verzögertes Wachstum
- Schlafstörungen
- erhöhter Muskeltonus (Muskelspannung)
Symptome und Verlauf
Symptomatologie = griechisch; Semiologie; Lehre von den Krankheitszeichen.
Hier erfolgt eine Einteilung in 4 Stadien, welche jedoch im Zeitablauf von Fall zu Fall differieren kann.
Hier werden die Hauptkriterien der jeweiligen Phasen aufgegliedert:
- Phase der Verlangsamung, der Stagnation, des Stillstandes
(Zeitraum: 6. bis 18. Lebensmonat)
Die Phase wird in der Regel kaum bemerkt, sie wird zum späteren Zeitpunkt in der sog. Rückschau erkannt. Die ersten Anzeichen können in diesem frühen Stadium bereits vorhanden sein. Rückwirkend wurde oft festgestellt, dass die betroffenen Mädchen entweder sehr ruhig waren oder sehr viel schrien. Ebenso ein gewisses Desinteresse an angebotenem Spielzeug, sowie geringerer Blickkontakt. Die Verlangsamung des Kopfwachstums geht wahrscheinlich allen anderen klinischen Merkmalen voran. Dennoch bedeuten diese Entwicklungsauffälligkeiten nicht, dass jedes Kind, welches Anzeichen in der o.g. Form zeigt, später auch am Rett-Syndrom erkrankt. - Phase der Entwicklungsregression, auch schnelles Destruktiv-Stadium
(Zeitraum: 1. bis 4. Lebensjahr)
Der Übergang in dieses Stadium kann fließend, aber auch sehr plötzlich geschehen. Bereits gelernte Wörter werden wieder verlernt, der gezielte Einsatz der Hände z. B. beim Spielen verliert sich. Oftmals beginnt bei den Mädchen die typische Handstereotypie, Finger lutschen und Finger beißen (kann bis zur Selbstverletzung führen). Der Kontakt zu den einzelnen Personen erfolgt nicht mehr different. Es kann zum Auftreten von ersten zerebralen (das Gehirn betreffenden) Krampfanfällen kommen (EEG). In dieser Phase wird oftmals die Fehldiagnose Autismus gestellt.
Wichtig: Im Übergang von der 2. auf die 3. Phase treten bei einigen Mädchen Schlafstörungen auf, d. h. die Mädchen schlafen so gut wie überhaupt nicht, andere haben über längere Zeit Schreianfälle, andere haben massive Lachanfälle. - Plateau- oder pseudostationäre Phase
(Zeitraum: 2. bis 10. Lebensjahr)
In dieser Phase tritt eine relative Ruhe für die Mädchen ein. Die autistischen Phasen wechseln sich mit Phasen der Aufmerksamkeit ab. Die Fähigkeit zu kommunizieren kann wiedererlangt werden. Die bekannten Symptome – Handstereotypie, Zähneknirschen, usw. bleiben jedoch bestehen. Ebenso treten in dieser Phase häufig epileptische Anfälle auf. Zusätzlich kommt es verstärkt zu Apraxie (Unfähigkeit b. erhaltener Beweglichkeit zu handeln) und Ataxie (Störung der Bewegungskoordination). In dieser Phase bleiben viele Rett-Mädchen ihr Leben lang. - Phase der späten motorischen Verschlechterung
(Zeitraum: Ende der 3. Phase, ca. ab dem 10. Lebensjahr)
Hier tritt eine deutliche Verschlechterung der Mobilität ein – Rollstuhl; hinzu kommt das Fortschreiten der Skoliose und Muskelschwund.
Sonderformen
Zum „klassischen” Rett-Syndrom gibt es verschiedene Varianten:
- Congenitale Variante (unmittelbar nach Geburt auftretendes Rett-Syndrom)
- Early-seizure-onset Variante (frühzeitige epileptische Anfälle, vor dem 2. Lebensjahr)
- Preserved-speech Variante (sprachliche Fähigkeiten bleiben teilweise erhalten)
- Late-Regression Variante (eintreten der 2. Phase erst nach dem 8. Lebensjahr)
- Forme-fruste Variante (einzelne Symptome nur sehr milde ausgeprägt, viele Fähigkeiten bleiben erhalten)
Behandlung
Nach dem heutigen wissenschaftlichen Stand gibt es keine Heilung, jedoch einige Behandlungen, die die Lebensqualität der betroffenen Mädchen verbessern. Hierzu gehören: Musiktherapie, Lichttherapie, Krankengymnastik, Massagen, Reittherapie, Ergotherapie.
Differentialdiagnosen
Autismus, Epilepsie, Angelman-Syndrom (happy-puppet-syndrom), Prader-Willi-Syndrom
Selbsthilfegruppen/Vereine
Zusatz-Information:
angeboren